Die Notenbanken sind in der Zwickmühle. Oder wie Karl Valentin es ausgedrückt hätte: Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut. Es ist auch für den Anleger schwierig, sich zu entscheiden, welches Szenario er sich wünschen soll. Man hat mitunter den Eindruck, man muss sich zwischen Cholera und Pest entscheiden. Dabei sind wir doch schon mitten in einer Pandemie.

Vom zeitlichen Ablauf wird die amerikanische FED früher mit der Reduzierung der Anleihekäufe beginnen als die europäische EZB. Aber in beiden Fällen könnten die Auswirkungen anfangs „neutral“ sein, wenn sich die Neuaufnahme der Staatsschulden 2022 gegenüber 2021 ebenfalls reduziert (weniger Refinanzierungsbedarf). Also mehr Schulden: ja, aber weniger als letztes Jahr. Daher hätte dies zunächst keine Auswirkungen auf die Börsen, aber trotzdem wird der Schuldenberg höher. Die Wachstumsrate der Gesamtschulden lag seit der Finanzkrise 2008 jedes Jahr deutlich über der des Wirtschaftswachstums. Zinserhöhungen werden daher wesentlich mehr Einfluss auf die Wirtschaft nehmen. Aktien könnten sich in diesem Umfeld stabil bis leicht steigend entwickeln. Die Edelmetalle leicht bis etwas stärker steigend.

Schwächt sich die Wirtschaftslage in 2022 aber ab und die Währungshüter verzichten auf die Maßnahmen, stoppen diese gleich wieder oder nehmen getätigte sogar zurück, dürften die Aktien, je nach Stärke der Wirtschaftsabschwächung, mit fallenden bis stärker fallenden Kurse reagieren. Die Edelmetallkurse sollten sich stärker bis stark positiv entwickeln. Zwar ist einerseits davon auszugehen, dass die schwächere Wirtschaft die Inflation etwas bremst, aber diese auch nicht „bekämpft“ werden kann. Die logische Folgerung wäre, dass die Rate zwar etwas zurückgeht, aber dafür nicht nur „vorübergehend“ weit über zwei Prozent liegt, sondern uns weitere Zeit in darüber liegender Höhe (evtl. deutlich) belasten wird. Immer mehr Notenbänker streichen in ihren Prognosen jetzt „vorübergehend“.

Neben der Wirtschaftsstärke ist die Inflationsentwicklung von maßgeblicher Bedeutung für die Notenbankpolitik. Zunächst dürften die einmal eingeführten, höheren Verkaufspreise bei Waren und Dienstleistungen in den meisten Fällen nicht zurückgenommen werden. Minister Özdemir will Billig-Lebensmittel abschaffen. Die Gehälter sollen deutlich erhöht werden. Zudem wird jedes weitere Wachstum (auch schwächeres) die heute bestehenden Engpässe nicht auflösen lassen und in einigen Fällen (zum Beispiel Rohstoffe) den Preisdruck sogar erhöhen. Beste Voraussetzung für eine „Stagflation“, bei der die Aktienkurse meist nachgeben und die Edelmetallpreise stark ansteigen.

Für die Aktienmärkte wird es „gefährlich“, wenn zwei oder mehrere Risiken eintreten. Wenn zum Beispiel die Inflationsrate weiter über vier Prozent bleibt, die Wirtschaft sich trotz sogar entgegengesetzter Maßnahmen der Notenbanken (Erhöhung der Anleihekäufe und Zinssenkungen) stark abschwächt und in der Folge die Kapitalmarktzinsen steigen, weil die Anleger die Risiken erkennen.

Relativ einig sind sich die Börsenteilnehmer über die fünf Phasen einer Börsenblase. Die 1. Phase beginnt am Ende einer Abwärtsbewegung, wenn erste Anleger antizyklisch kaufen, weil sie überzeugt sind, dass die in der Krise vollzogenen Maßnahmen in naher Zukunft Wirkung zeigen werden. Und wirklich steigen dann in Phase 2 die Kurse peu à peu an, unterstützt von einer sich stabilisierenden Wirtschaft. Es gibt erste spekulative Käufe und Anlegergruppen, die Angst haben, den Zug zu verpassen.

Die euphorische Phase 3 ist sicher die „schönste“. Käufer werden durch steigende Kurse angelockt. Sie bedienen sich jetzt der Argumente (Aktien sind alternativlos), die sie früher verurteilt hatten. Für Gesellschaften mit geringem Umsatz und noch ohne jeden Gewinn werden Traumkurse bezahlt, so dass deren Wert in Milliardenhöhe getrieben wird, und sie dann oft wertvoller sein sollen als Standardwerte. Warnungen werden gehört, aber nicht ernst genommen.

Nun kommen in Phase 4 auch zahlreiche unerfahrene, meist junge Kleinanleger (oft spekulativ) oder entnervte Sparer (keine Zinsen), meist durch Bankberatungen, über deren eigene Fonds oder ETFs an die Märkte (Dienstmädchen-Hausse). Da die Kurse weiter steigen, werden sie mutig und erhöhen bei jedem Rücksetzer ihren Kapitaleinsatz. Gleichzeitig verkaufen Insider und Firmenbosse eigene Aktien (Gewinnmitnahmen), so dass irgendwann die vorherigen Höchstkurse nicht mehr erreicht werden.

Dann dreht die Stimmung. Phase 5 beginnt. Oft geht es schlagartig mit einer einzigen Meldung. Die „buy-the dip-Strategie“ greift nicht mehr, die Kurse fallen weiter. Teilnehmer, die auf Kredit gekauft haben werden mit „Margin Calls“ zu Verkäufen gezwungen, die Kurse fallen weiter. Jetzt verkaufen auch andere Teilnehmer wie „Trendfolger“, es gibt weitere Margin-Calls. Angeleger bekommen Angst und verkaufen auf schon deutlich niedrigerem Niveau. Die „Todesspirale“ nimmt seinen Lauf.

Es bleibt nun jedem Anleger selbst überlassen, sich eine Meinung darüber zu bilden, in welcher Phase sich unser Aktienmarkt befinden könnte. Etliche Darstellungen aus drei und vier kommen mir allerdings recht aktuell vor. Es gibt ernst zu nehmende Hinweise, dass wir uns wahrscheinlich schon eher in Phase vier befinden. So hat sich der S&P500 seit seinem Tief im Februar 2020 schon wieder verdoppelt, seit dem Tief der Finanzkrise in 2009 versiebenfacht. In 2021 sollen laut Daten der Bank of America Anleger etwa 900 Milliarden Dollar in Aktienfonds investiert haben. Mehr, als zusammengerechnet in etlichen Jahren davor. Auch bei uns kommen die Online-Banken mit den Konto-Neueröffnungen kaum noch nach.

Aber nicht nur Anleger kaufen wie wild. Auch spekulativ eingestellte Investoren überschwemmen den Markt. So hat zum Beispiel in den USA die Summe der auf Kredit gekauften Aktien ein neues Hoch erklommen. Über Private-Equity-Unternehmen kaufen Rendite hungrige Spekulanten Schrottanleihen und hochriskante Wetten. Die Summe lag 2021 fast doppelt so hoch wie im Rekordjahr 2015. Auch die Übernahmen boomen. Diese werden mit Eigenkapital sowie mit Krediten, und in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß mit gehebelten Kreditinstrumenten (Leveraged Buyout) finanziert. Diese Leveraged Loans erreichten einen Rekordwert von fast 600 Mrd. Dollar. Wohlgemerkt: Dabei handelt es sich um Kredite von Gesellschaften, deren Rating im bedenklichen Bereich liegen und deren Finanzierung daher für Banken zu riskant ist. Da die Edelmetallpreise nicht steigen, werden die Gefahren nicht als solche wahrgenommen.

Im Dezember berichtete das Wall Street Journal, dass US-Firmenbosse in 2021 massiv eigene Aktien abgestoßen haben, und zwar laut eines Marktforschungsunternehmens viermal so viel, wie im Durchschnitt der letzten Jahre. Während die Verkäufe von Elon Musk (Tesla) durch die Presse ging, hörte man von den anderen 49 Top-Manager recht wenig. Das alles klingt sehr stark nach „Phase 4“.

Der Anleger hat jetzt wieder zwei Möglichkeiten. Er spielt mit den großen „Players“ mit und glaubt rechtzeitig abspringen zu können. Dies ist eine nervenaufreibende Strategie, die mit höheren Renditen belohnt werden kann. Wenn der rechtzeitige Ausstieg gelingt. Die meisten Anleger versäumen aber erfahrungsgemäß diesen Zeitpunkt, weil sie den Beginn des Abwärtstrends (wie in den vergangenen Monaten gewohnt) nur als Korrektur im Aufwärtstrend ansehen. Zweite Möglichkeit: Man ändert die Strategie, setzt Kapitalerhaltung an die erste Stelle des Anspruchs und diversifiziert jetzt in aller Ruhe in Liquidität, Standardwerte, teils mit Dividendenkontinuität und Edelmetallen. Denn, egal was die Notenbanken tun oder nicht, aber selbst dann, wenn der Anleger mit seiner Prognose dazu richtig liegt, weiß er noch lange nicht, was die Börse daraus macht. Auch hier gibt es immer zwei Möglichkeiten.

 

Aus dem Börse Express PDF vom 12. Jänner - hier zum Download

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