Glaubt man den Umfragen, so werden die Europawahlen wahrscheinlich zu einem stärker fragmentierten Parlament mit einem höheren Anteil populistischer Parteien führen. Es wird erwartet, dass die beiden großen politischen Kräfte, die Europäische Volkspartei und die Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten zwar ihre derzeitige Mehrheit verlieren, aber weiterhin die beiden größten Parteien im EU-Parlament bleiben. Sie könnten versuchen, sich mit anderen, kleineren proeuropäischen Gruppierungen, wie zum Beispiel den Grünen, zu verbinden. Das Entstehen einer neuen antipopulistischen Koalition könnte ab 2020 zu einer stärkeren proeuropäischen Agenda führen. Unwahrscheinlich ist aus heutiger Sicht, dass sich die Euroskeptiker zu einer geschlossenen Front gegen den Mainstream stellen, denn die Programme der nationalistischen und antieuropäischen Parteien sind nicht unbedingt deckungsgleich.

Die Bildung der Europäischen Kommission (EC) könnte mehr Zeit als üblich in Anspruch nehmen. Daher erwarten wir nicht, dass die EC vor 2020 voll funktionsfähig ist. Diese Kommission wird über den mehrjährigen Finanzhaushalt 2021 bis 2027 entscheiden müssen, der für Europas Zukunft von großer Bedeutung ist.

Viel wird auch davon abhängen, wie sich das Brexit-Szenario entwickelt. Sollte sich der Austritt noch lange hinziehen, könnte es sein, dass die Briten noch an den Wahlen im Mai teilnehmen, was die EU-kritischen Kräfte stärken dürfte. Direkt auswirken wird sich der Brexit auf die Zusammensetzung des neuen Parlaments: Ohne die 73 britischen Mitglieder wird die Abgeordnetenzahl von jetzt 751 auf 705 sinken. 27 Sitze würden umverteilt, 46 für mögliche zukünftige Erweiterungen in Reserve gehalten. 

Ein weicher Ausstieg mit einer langen Übergangsphase hätte kaum Einfluss auf die Wahlen. Die Gefahr eines harten Brexits könnte jedoch paradoxerweise das proeuropäische Lager stärken, weil die Wähler als abschreckendes Beispiel die hohen wirtschaftlichen und finanziellen Kosten sehen, die Großbritannien nun schultern müsste. Diese Entwicklungen werden ein politischer Test für viele EU-Mitgliedsstaaten sein und eine Signalwirkung auf die diversen lokalen Wahlen haben, die für das Jahr 2019 anstehen. Außerdem werden sie natürlich auch die Anlagemärkte im Euroraum beeinflussen:

Auswirkungen auf Renten- und Aktienmärkte unterschiedlich

Kurzfristig betrachtet kann eine Abschwächung des europäischen Zusammenhalts zu Unsicherheiten der Märkte führen. Die Konsequenzen davon wären ein schwächerer Euro, Marktvolatilität und eine größere Nachfrage nach Staatsanleihen, was wiederum einen Renditenrückgang dieser Papiere mit sich brächte. Die langfristigen Auswirkungen sind schwer vorhersehbar, denn sie hängen von der Rolle der zukünftigen EU-Kommission und der Stärke der proeuropäischen Parteien ab. Aber auch in einem unsicheren Szenario wie diesem sehen wir Chancen: Beispielsweise bieten spanische oder portugiesische Staatsanleihen trotz einer stetigen Verbesserung der Ertragslage immer noch gute Renditeaufschläge.

Europäische Aktien haben einen Großteil der politischen Unsicherheiten bereits eingepreist, mit Ausnahme eines No-Deal Brexits oder einer wesentlichen Verlangsamung der europäischen Wirtschaft – wovon wir allerdings nicht ausgehen. In diesem Umfeld bevorzugen wir eher zyklische als defensive Werte, wobei wir hier sehr selektiv vorgehen: Die Automobil- und die Transportbranche werden beispielsweise zurzeit sehr niedrig bewertet.

Außerdem sollte man nicht vergessen, dass eine positivere Entwicklung der beschriebenen Ereignisse, beispielsweise des Brexits, sogar zu einem deutlich besseren Ausblick für Europa führen könnte – und damit zu einer Neubewertung für europäische Aktien. Investoren sollten solide Unternehmen zu attraktiven Bewertungen suchen und sich nicht zu sehr von politischen Szenarien beeinflussen lassen. Wir glauben, dass es in Europa reichlich Chancen für Value-Anleger gibt.