Nur selten begann ein Jahr für risikobehaftete Wertpapiere so schlecht wie 2022, als die Erträge scheinbar diversifizierter Portfolios nur wenig Diversifikation boten. Aktien und Staatsanleihen verloren zweistellig. Für Aktien war es die schwächste Performance seit Jahrzehnten, und nie zuvor starteten Investmentgrade-Unternehmensanleihen schlechter. Fast alle Assetklassen gaben nach.

Im November hatte ich über die Risiken positiver Korrelationen zwischen Aktien und Anleihen bei steigenden Zinsen geschrieben. Heute geht es wieder darum – aber aus einem anderen Blickwinkel.

Der Falke und die Nachtigall

In einer griechischen Fabel, wohl aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., fängt ein hungriger Falke eine Nachtigall. In ihrer Verzweiflung will sie den Falken davon überzeugen, dass es doch viel wohlschmeckendere Vögel gäbe. Aber der Falke bleibt hart. Eine schon gefangene Beute, so klein sie auch sein möge, sei besser als eine große, die er erst noch jagen müsse.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Geschichte immer weiter verknappt. „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“, heißt es heute. Was man schon hat, ist mehr wert als das, worauf man noch hofft. Nicht anders ist es auch bei risikobehafteten Wertpapieren im turbulenten Jahr 2022 und danach.

Die Fabel in der Praxis

Die Nachtigall steht für den Geldmarktzins, also die Rendite von Sparguthaben und Geldmarktfonds. Auf dem Höhepunkt der Coronakrise, als Nominal- wie Realzinsen auf null fielen und oft negativ wurden, hatte der Spatz in der Hand – Kasse – keinerlei Wert mehr.

Der Falke steht für die Investoren. Als man mit sicheren Anlagen nichts mehr verdienen konnte, gab es nur noch ein Argument für risikolose Titel: ihre Wertsicherungsfunktion, die hohe Wahrscheinlichkeit, das eingesetzte Kapital irgendwann zurückzubekommen – kein wirklich attraktives Versprechen.

Die Taube auf dem Dach steht für risikobehaftete Titel, von Unternehmensanleihen bis zu Private Equity, Aktien, Immobilien, Kryptowährungen und vielem mehr. Mangels Alternative mussten Investoren der metaphorischen Taube auf dem Dach nachjagen. 2021 floss mehr Kapital in internationale Aktien als in den 20 Jahren zuvor.

Trendwende 2022

Ende 2021 erkannten die Investoren dann, wie hartnäckig die Inflation sein würde. Die Teuerung war überraschend stark gestiegen, und die risikoreichsten Aktienmarktsegmente wie IPOs, SPACs und Small Caps fielen allmählich hinter den Markt zurück. Der – wenig überraschende – weitere Anstieg der Geldmarktrenditen im neuen Jahr hatte immer größere Folgen, da der Markt das neue Angebot nicht mehr problemlos aufnehmen konnte. Der Spatz in der Hand bot etwas, was man lange nicht mehr gesehen hatte: Rendite. Die Korrelation zwischen Aktien und Anleihen stieg drastisch, und beide Assetklassen lagen im Minus.

Auch diesmal ließen defensive Aktien Zykliker (außerhalb des Rohstoffsektors) sowie Wachstumsaktien hinter sich. Traditionell schichten Investoren in einer solchen Situation von performancestarken, aber auch unsicheren Titeln (wie Aktien nicht rentabler Unternehmen mit schwer verständlichen Geschäftsmodellen) in performanceschwächere, dafür aber berechenbarere Papiere um (etwa in Aktien von Unternehmen mit erwiesenermaßen nachhaltigen Gewinnen). Um bei der Fabel zu bleiben: Die schwer zu fangende, aber schmackhafte Taube auf dem Dach wurde weniger attraktiv. Investoren entscheiden sich für Vögel, die sich leichter jagen lassen – also für Unternehmen mit berechenbareren Langfristerträgen. Wir bevorzugen in der Regel solche Firmen und nennen sie solide Aktien oder auch Qualitätstitel.

Engere Korrelationen zwischen Assetklassen

Der drastische Zinsanstieg hat viel verändert. Jetzt ist der Spatz in der Hand plötzlich etwas wert; er konkurriert um das Kapital der Anleger. Lassen Sie uns die Konsequenzen überlegen und einen Fahrplan entwickeln.

Höhere Kurzfristzinsen können zu engeren Korrelationen zwischen den Assetklassen führen. Das kann für Aktien und Anleihen gelten, aber auch für Investmentstile wie Growth und Value. Die Folge wären kleinere Performanceunterschiede zwischen den Assetklassen als früher. Man sollte daher weniger auf die Assetklassen selbst achten als auf die Qualität der Einzelwerte. Ihre Auswahl steht jetzt im Mittelpunkt. Entscheidend werden die Cashflows der einzelnen Wachstums- und Substanzwerte und der Unternehmensanleihen mit und ohne Investmentgrade-Status sein – nicht die Assetklassen als Ganzes.

Ich glaube, dass die Fundamentaldaten der Unternehmen ausschlaggebend für die Anlageerträge sein werden, bei Aktien wie bei Anleihen. Meiner Meinung nach sollte man in Qualitätstitel investieren, die Cashflows erwirtschaften, unabhängig von Investmentstil und Assetklasse.