Rekordjagd in der Krise / Kommentar zur Verfassung der Finanzmärkte

von Christopher Kalbhenn

Frankfurt (ots) - Zu den überraschenden und außergewöhnlichen

Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie an den Finanzmärkten zählen die

Geschwindigkeit und das Ausmaß, mit denen sich die Aktienmärkte von den im März

erreichten Crash-Tiefen erholt haben. Jedoch wird diese spektakuläre Erholung

auf Gesamtmarktebene von der Hausse der großen Technologiewerte in den Schatten

gestellt. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass mehrere Titel aus der Riege der

Tech-Dickschiffe wie etwa Amazon, Apple und Microsoft Rekordhöchststände

erreichen. Selbst an Tagen, an denen die Aktienmärkte insgesamt schwächer

tendieren, zieht der Sektor an, so zuletzt am Donnerstag, als der Dow 1,4%

einbüßte und der Nasdaq Composite 0,5% zulegte.

Wie sehr der Aufschwung der Aktienmärkte von einer kleinen Gruppe sehr großer

Tech-Werte, der sogenannten FAANG-Gruppe (Facebook, Amazon, Apple, Netflix und

die Google-Betreiberin Alphabet) und einer kleinen Auswahl weiterer Titel des

Sektors getragen wird, zeigt deren beeindruckende Outperformance. Der Nyse FANG+

Index, der neben den FAANG die chinesischen Tech-Riesen Alibaba und Baidu sowie

Nvidia, Tesla und Twitter enthält, hat seit dem Jahresbeginn sagenhafte 50,6%

gewonnen, während der S&P mit einem Minus von 2,2% auf der Stelle tritt. Sogar

dem Tech-Auswahlindex Nasdaq (23%) sind FAANG & Co. meilenweit enteilt.

Nicht nur hat Tesla, seit Jahresbeginn mit 237% im Plus, Toyota als Nummer 1 der

Automobilbranche nach Börsenbewertung überholt, auch innerhalb des Tech-Sektors

gab es in der abgelaufenen Woche eine Entthronung. Nvidia ist an der Börse mit

259 Mrd. Dollar nun mehr wert als die Nummer 1 der Chip-Branche Intel, deren

Marktkapitalisierung bei 250 Mrd. Dollar liegt.

Historisch gesehen ist es nicht ungewöhnlich, dass die Aktienmärkte wie zuletzt

Mitte März im Umfeld der schlimmsten Phase einer Krise den Boden ausbilden und

einen Bullenmarkt starten. Ungewöhnlich ist jedoch, wenn Rekordhöhen erreicht

werden, während die Krise noch anhält. Es ist derzeit völlig unklar, wann die

Pandemie überwunden wird, und es besteht das Risiko einer heftigen zweiten Welle

ab dem Herbst und weiterer Lockdowns. In den USA ist die Lage derzeit außer

Kontrolle, die täglichen Neuinfektionen eilen von Rekord zu Rekord. In

Australien ist der Bundesstaat Victoria mit der Millionenmetropole Melbourne in

der abgelaufenen Woche wegen zunehmender Infektionen unter Quarantäne gestellt

worden, die Grenze zum benachbarten Bundesstaat New South Wales, in dem Sydney

liegt, wurde abgeriegelt - erstmals seit der Spanischen Grippe.

Doch was treibt die Investoren, FANG+-Aktien zu kaufen, als gäbe es kein Morgen

mehr? Abgesehen von der Tatsache, dass die massiven geld- und fiskalpolitischen

Impulse derzeit alle Risiko-Assets treiben, die bei drei nicht auf den Bäumen

sind, ist der Höhenflug gerade dieser Aktiengruppe bis zu einem gewissen Grad

fundamental begründbar. Schon 2019 stand die Gruppe in einem Umfeld allgemein

sinkender Wirtschafts- und Gewinnwachstumsraten aufgrund ihrer stark steigenden

Erlöse und Gewinne und überdurchschnittlichen Wachstumsaussichten bei Anlegern

hoch im Kurs. Die Coronakrise wirkt in dieser Hinsicht als Verstärker, denn

während in den meisten Branchen das Geschäft eingebrochen ist, profitieren

Unternehmen wie etwa der Online-Handelsriese Amazon, dessen Aktie seit

Jahresbeginn mehr als 70% gewonnen hat, mit stark steigenden Erlösen und

Marktanteilsgewinnen. Insofern ist auch ein Vergleich mit der Dotcom-Blase, als

die Geschäftsmodelle vieler innovativer Tech-Unternehmen (noch) nicht

funktionierten, unangebracht.

Dennoch ist der Höhenflug der FANG+-Aktien eine eher ungesunde Entwicklung. Denn

es handelt sich um einen sogenannten Crowded Trade in extremer Ausprägung. Immer

mehr Anleger drängen in diese Aktiengruppe, die Hausse hat längst einen sich

selbst verstärkenden Charakter. Die Bewertungen haben anspruchsvolle Niveaus

erreicht, was ebenfalls auf Rückschlagrisiken hindeutet. Laut Bloomberg liegt

das 2020er KGV des Nyse FANG+ Index bei 43. Was aber nicht zwangsweise ein in

naher Zukunft bevorstehendes Ende der Tech-Hausse bedeutet. In der Vergangenheit

haben Haussen regelmäßig noch lange angehalten, nachdem bereits sehr hohe

Bewertungsniveaus erreicht waren, und der geldpolitisch induzierte Mangel an

Anlagealternativen zu Dividendentiteln wird noch lange Bestand haben.

(Börsen-Zeitung, 11.07.2020)

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