Im Streit um die Rentenreform in Frankreich ist auch nach knapp einer Woche voller Streiks und Proteste keine Lösung in Sicht. Am Dienstag gingen wieder Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße, um gegen die Pläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu demonstrieren. "Wir haben keinen Grund, ein System aufzugeben, das funktioniert", verteidigte der Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds Force ouvrière, Yves Veyrier, das bisherige Rentensystem. Die Regierung will ihre Pläne am Mittwoch vorstellen und geht davon aus, dass die Proteste weitergehen werden.

Die Gewerkschaften hatten für Dienstag erneut zu landesweiten Protesten aufgerufen - Hundertausende gingen auf die Straße. Durch den Pariser Süden zogen Zehntausende, auch in anderen Städten protestierten Menschen gegen die Reformpläne. Nach Angaben des Innenministeriums waren landesweit 339 000 Menschen auf der Straße, die Gewerkschaft sprach von 885 000 Demonstranten. Das sind deutlich weniger als bei den Massenprotesten am vergangenen Donnerstag.

Die Streiks im Fernverkehr und bei den Pariser Verkehrsbetrieben RATP gingen am sechsten Tag in Folge weiter. Rund drei Viertel der Lokführer legten am Dienstag die Arbeit nieder, wie die französische Staatsbahn SNCF mitteilte. Auch Lehrer und andere Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes traten in den Ausstand.

Die Rentenreform ist ein großes Wahlversprechen von Macron - und könnte für den als Reformer angetretenen 41-Jährigen zu einer harten Prüfung werden. Die Regierung will die Privilegien für bestimmte Berufsgruppen auf längere Sicht beenden und ein einheitliches System schaffen, das für alle gilt. Denn momentan gibt es insgesamt 42 Renten-Einzelsysteme in Frankreich - davon bringen einige zahlreiche Privilegien mit sich.

Mit Spannung wird die Vorstellung der konkreten Pläne am Mittwoch erwartet. "Nur weil ich eine Rede halte, bedeutet das nicht, dass die Demonstrationen aufhören werden. Diese Rede wird sogar neue Fragen aufwerfen. Und das ist normal", sagte Premier Edouard Philippe nach Angaben der französischen Nachrichtenagentur AFP zu Abgeordneten hinter verschlossenen Türen. Es ist zu erwarten, dass die Regierung an den grundsätzlichen Reformideen festhalten wird.

Das heißt, dass künftig alle in dieselbe Kasse einzahlen sollen statt in gut 40 verschiedene. Außerdem soll es ein Punktesystem geben, ähnlich wie in Deutschland. Derzeit werden etwa im Grundrentensystem die 25 besten Jahre eines Berufslebens zur Ermittlung der Rente herangezogen. Mit dem Punktesystem soll jeder eingezahlte Euro berücksichtigt werden. Die Kritiker der Reform fürchten, dass sie mit der Vereinheitlichung des Systems bestimmte Privilegien verlieren und weniger Geld bekommen.

An einer Reformierung des Rentensystems sind vor Macron schon viele gescheitert. Selbst kleinste Veränderungen konnten in der Vergangenheit nur gegen größte Widerstände durchgesetzt werden. Auffällig ist, dass der Präsident seit Beginn der Proteste eher mit Abwesenheit glänzt. Er hatte die Franzosen noch im Sommer auf die Reform eingeschworen und eine große Debatte ähnlich wie nach den "Gelbwesten"-Protesten versprochen.

Daraus ist allerdings nicht wirklich etwas geworden. Anfang des Jahres war er noch durchs Land gereist und nahm an etlichen Diskussionsrunden der großen Bürgerdebatte teil. Das blieb nun nahezu aus. Aus dem Präsidentenpalast ist seit Beginn der Proteste fast nichts mehr zur Reform zu hören. Beim Ukraine-Gipfel am Montagabend sprach Macron nach einer Journalistenfrage von einer "notwendigen" Reform. Der Präsident schickt lieber seinen Premier vor, hat aber im Hintergrund die Fäden in der Hand. Regelmäßig trifft er sich mit Regierungsmitgliedern, um an der endgültigen Reform zu feilen, wie französische Medien berichten.

Vor allem in Paris sorgen sich mittlerweile die Hoteliers und Restaurantbetreiber wegen der anhaltenden Proteste. "Seit letztem Donnerstag sind die Hotelbuchungen um 30 Prozent gesunken, in den Restaurants liegt der Rückgang bei 40 bis 50 Prozent", klagt Franck Delvau vom Pariser Verband der Hotelindustrie. Vor allem die Touristen aus Europa und Frankreich würden stornieren, sagte er der Zeitung "Le Parisien". "Warum nach Paris kommen, wenn es keinen Nahverkehr und keine Sicherheit bei den Museen gibt, bei Denkmälern wie dem Eiffelturm, der am vergangenen Donnerstag geschlossen hatte?"

In der Tat ist die Hauptstadt besonders heftig von den Streiks im Nahverkehr betroffen. Kaum eine Metro und ein Vorstadtzug fahren. An den überfüllten Bahnsteigen spielen sich morgens regelmäßig Dramen ab. In den wenigen Zügen, die kommen, ist kein Platz mehr - die Menschen können weder ein- noch aussteigen. An zahlreichen Stationen hat die RATP zusätzliche Mitarbeiter abgestellt, die für Sicherheit sorgen sollen. Sie wiederholen gebetsmühlenartig, dass man sich nicht zu nah an die Bahnsteigkante stellen soll und passen auf, dass in dem Gedränge niemand verletzt wird.

An den großen Bahnhöfen herrscht hingegen fast gähnende Leere, wo sonst kein Durchkommen ist. Ab und an fahren zwar Fernzüge - aber viel weniger als normal. Jeden Morgen staut sich der Verkehr im Großraum Paris auf Hunderten Kilometern.

Dem Streik gegen die Rentenreform haben sich unterdessen auch andere angeschlossen - der Protest ist mittlerweile viel grundsätzlicherer Natur. So gehen Schüler auf die Straße, um gegen das Schulsystem zu protestieren. Studenten demonstrieren gegen finanzielle Unsicherheit. Transportunternehmen rufen zum Streik für bessere Arbeitsbedingungen auf./nau/DP/stw

AXC0329 2019-12-10/19:15

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