Schwere Schlappe für die Parteien der großen Koalition: Union und SPD haben bei der Europawahl in Deutschland historisch schlecht abgeschnitten. Trotzdem bleiben CDU und CSU zusammen stärkste Kraft. Die Sozialdemokraten dagegen fallen bei der Abstimmung am Sonntag auf den dritten Platz. Die Grünen jubeln, erstmals bei einer bundesweiten Wahl klettern sie auf den zweiten Rang. Die EU-skeptische AfD verbessert ihr Europawahl-Ergebnis, bleibt aber hinter dem der Bundestagswahl.

Union und SPD schnitten Hochrechnungen zufolge so schlecht ab wie nie zuvor bei einer bundesweiten Wahl. Hinzu kommt: Bei der zeitgleichen Landtagswahl in Bremen erlebten die Sozialdemokraten ebenfalls ein Fiasko. Die CDU lag dort nach Prognosen 1 bis 2 Prozentpunkte vor der SPD. Der Stadtstaat war über 70 Jahre eine rote Hochburg. Die Ergebnisse könnten das schwarz-rote Bündnis in Berlin stark belasten.

Die Wahlen waren der erste Stimmungstest für die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer seit ihrem Amtsantritt im Dezember, Kanzlerin Angela Merkel hatte sich weitgehend aus dem Wahlkampf herausgehalten. Kramp-Karrenbauer sagte, das EU-Ergebnis entspreche nicht dem Anspruch der Union als Volkspartei. Nach Einschätzung von CDU-Vize, Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner, schaffte es die CDU nicht, mit den von ihr gesetzten Schwerpunkten bei den Wählern anzukommen. CSU-Chef Markus Söder fordert ein strategisches Umdenken der Union: "Die große Herausforderung der Zukunft ist die intensive Auseinandersetzung mit den Grünen", sagte er im Bayerischen Fernsehen. In Deutschland sah sich zuletzt vor allem die CDU scharfer Kritik von jungen Youtube-Stars ausgesetzt.

Die SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles bezeichnete das Ergebnis als "schmerzlich". Generalsekretär Lars Klingbeil sagte: "Das Ergebnis kann nicht ohne Folgen bleiben." Er wandte sich aber - wie auch Vizekanzler Olaf Scholz - gegen Personaldebatten. Fraktionsvize Achim Post und Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz wurde zuletzt nachgesagt, sich für die Ablösung von Nahles an der Fraktionsspitze im Bundestag warmzulaufen.

Den innerparteilichen Gegnern der großen Koalition um Juso-Chef Kevin Kühnert dürften die krachenden Niederlagen in jedem Fall neue Argumente liefern. Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel forderte Konsequenzen: "Alles gehört und alle gehören auf den Prüfstand", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Es gehe jetzt "um die Existenz der SPD als politische Kraft in Deutschland", sagte er dem "Tagesspiegel".

Das schlechte Ansehen der Parteichefs ist einer ersten Analyse der Forschungsgruppe Wahlen zufolge maßgeblich für das schwache Abschneiden von Union und SPD. Auch beim Parteiansehen und der Bewertung der Regierungsarbeit in Berlin gebe es Defizite.

Die Union aus CDU und CSU erreicht nach den Hochrechnungen von ARD und ZDF 28,2 bis 28,8 Prozent - etwa sieben Punkte weniger als bei der Europawahl 2014 (35,4 Prozent) und auch schlechter als bei der Bundestagswahl 2017 (32,9 Prozent). Die herben Verluste gingen dabei auf das CDU-Konto, nicht das der bayerischen Schwester CSU.

Die SPD stürzt auf 15,5 Prozent ab. Das sind rund zwölf Punkte weniger als bei der vorherigen Europawahl (27,3 Prozent), bei der Bundestagswahl hatten die Sozialdemokraten 20,5 Prozent erreicht.

Die Grünen legen den Hochrechnungen zufolge auf 20,6 bis 20,8 Prozent zu - gut zehn Punkte mehr als bei der Europawahl vor fünf Jahren (10,7 Prozent). Die AfD kommt auf 10,8 bis 10,9 Prozent (2014: 7,1 Prozent). Die Linke liegt bei 5,4 bis 5,5 Prozent (2014: 7,4 Prozent), die FDP bei 5,4 bis 5,5 Prozent (2014: 3,4 Prozent). Auf andere Parteien entfallen 13,5 bis 13,6 Prozent.

Die Grünen bezeichneten ihr historisch gutes Ergebnis als "Signal für mehr Klimaschutz". "Das ist ein Sunday for Future", sagte Spitzenkandidat Sven Giegold in Anspielung auf die Schüler- und Studentenbewegung Fridays For Future, die sich für einen besseren Klimaschutz einsetzt. AfD-Chef Alexander Gauland sprach von einem "schwierigen Wahlkampf" für seine Partei. Angesichts dessen sei er mit dem Ergebnis zufrieden, sagte er im ZDF. FDP-Chef Christian Lindner sah seine Partei als "kleinen Wahlgewinner". Der Linke-Spitzenkandidat bei der Europawahl, Martin Schirdewan, äußerte sich unzufrieden mit dem Abschneiden seiner Partei.

Der Klimaschutz war zuletzt ein zentrales Thema im Wahlkampf. Darüber hinaus ging es insbesondere um Mindestlöhne, die Besteuerung von Internetkonzernen, die Migrationspolitik und die Internet-Urheberrechtsdebatte. Bestimmt war er aber auch von Sorgen vor einem Erstarken von Rechtspopulisten, EU-Skeptikern und Nationalisten.

Aus der ersten europaweiten Prognose des EU-Parlaments ging hervor, dass Christ- und Sozialdemokraten nach erheblichen Verlusten erstmals nicht mehr in der Lage sein werden, alleine eine Mehrheit im Europaparlament zu stellen. Liberale und grüne Parteien legten deutlich hinzu. Auch rechtspopulistische Parteien verbuchten Zugewinne. Allerdings blieben einige von ihnen hinter ihren Erwartungen zurück.

Die EU-kritische AfD will im Europaparlament eine neue Fraktion mit anderen Rechtspopulisten wie der italienischen Lega und der französischen Partei Rassemblement National bilden. Kurz vor der Wahl war die mit der AfD verbündete FPÖ in Österreich durch die Ibiza-Affäre massiv unter Druck geraten.

Die Wahlbeteiligung lag in Deutschland den TV-Berechnungen zufolge bei 61,5 bis 62,0 Prozent - ein deutlicher Sprung nach oben: vor fünf Jahren waren es 48,1 Prozent. Diesmal waren in Deutschland 64,8 Millionen Menschen wahlberechtigt.

Nach den Hochrechnungen verteilen sich die 96 deutschen Sitze im EU-Parlament so: CDU/CSU 28 Mandate, SPD 16, Grüne 21, AfD 11, Linke 5, FDP 5, auf andere Parteien entfallen demnach 10, darunter jeweils 2 für die Freien Wähler, die Tierschutzpartei und die Satirepartei Die Partei. Bei der Europawahl gilt in Deutschland keine Fünf-Prozent-Hürde.

Eine Kabinettsumbildung in Berlin wird es auf jeden Fall geben, weil Justizministerin und SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley ins EU-Parlament wechselt. Ob noch mehr Posten im Kabinett neu verteilt werden, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.

Das Europaparlament hat wichtige Kompetenzen in der EU-Gesetzgebung und muss unter anderem dem jährlichen EU-Haushalt zustimmen. Es spielt auch eine wichtige Rolle bei der Bestimmung des neuen EU-Kommissionspräsidenten./seb/DP/edh

AXC0111 2019-05-26/21:18

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