Einen Marshall-Plan für die Zeit nach der Corona-Krise hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gefordert. Trotz aller Hilfsmaßnahmen müsse Europa mehr Geld in die Hand nehmen, verlangte sie in einem Gastbeitrag für die "Welt am Sonntag". Aus diesem Grund sprach sie sich für massive Investitionen in den EU-Haushalt aus. Dieses Budget sei in allen Mitgliedstaaten als Instrument des solidarischen Ausgleichs akzeptiert und müsse der Krise entsprechend angepasst werden.

Der Marshall-Plan war ein milliardenschweres Hilfsprogramm der USA, mit dem das vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete Westeuropa wieder auf die Beine kam.

Von der Leyen zeigte sich zuversichtlich, dass sich Europa bald wieder erholen werde: "Die vielen Milliarden, die heute investiert werden müssen, um eine größere Katastrophe abzuwenden, werden Generationen binden." So könne auch in der Krise das Gefühl der Gemeinschaft unter den Nationen Europas erneuert werden.

Im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie herrscht aber aktuell Streit in der Gemeinschaft. So verlangen unter anderem die schwer betroffenen Länder Italien und Spanien gemeinsame Anleihen der EU-Mitglieder zur Finanzierung der EU-Staaten - sogenannte Corona-Bonds. Damit könnten auch bereits hoch verschuldete Länder wie eben Italien Geld zu günstigeren Konditionen einsammeln, weil wirtschaftlich stärkere Staaten wie Deutschland ebenfalls für Zinsen und Rückzahlung haften. Bei einer Videoschalte an diesem Dienstag wollen die EU-Finanzminister weiter diskutieren, zudem sollen sie bis dahin neue Modelle entwickeln.

Unterstützung erhielten die Bonds-Befürworter von EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. "Wir brauchen ein europäisches Konjunkturprogramm und das sollte durch die Ausgabe von Anleihen finanziert werden", sagte er der Zeitung "Die Welt" (Samstag). Mit Blick auf Deutschland oder Österreich, die diese fest verzinsten Wertpapiere ablehnen, sagte der Italiener: "Die Botschaft nach Nordeuropa lautet aber: Wir reden nicht über die Vergemeinschaftung von Schulden. Jetzt geht es um gemeinsame Schulden im Kampf gegen das Coronavirus und seine Folgen, nicht um die Schulden der vergangenen 30 Jahre." Auch der aus Spanien stammende EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warb für diese Lösung.

Die Bundesregierung fürchtet hingegen, dass sie die Haftung für Schulden finanziell angeschlagener Länder übernehmen muss. Stattdessen tritt Finanzminister Olaf Scholz (SPD) für ein Drei-Stufen-Modell ein: vorsorgliche Kreditlinien des Euro-Rettungsschirms ESM, Bürgschaften der Europäischen Investitionsbank EIB und das von der EU-Kommission vorgeschlagene Programm zur Unterstützung von Kurzarbeitergeld-Modellen.

In einem gemeinsamen Gastbeitrag mit Außenminister Heiko Maas (SPD) für mehrere europäische Zeitungen (Montag) warb Scholz für dieses Drei-Stufen-Modell. "Europäische Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern die Lebensversicherung für unseren Kontinent", schrieben die Minister. "Europas gemeinsame Aufgabe ist jetzt, die bestehenden (nationalen) Programme zu flankieren, Lücken zu füllen und ein Sicherheitsnetz zu spannen für alle EU-Staaten, die weitere Unterstützung benötigen."

Kanzleramtschef Helge Braun, Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus sowie Bundestagspräsident und Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble (alle CDU) lehnen Corona-Bonds ebenfalls ab. Allerdings gibt es auch Stimmen aus der Regierungskoalition, die für die Aufnahme gemeinsamer Anleihen plädieren. Dazu zählen unter anderem SPD-Chef Norbert Walter-Borjans und CDU-Vorstandsmitglied Elmar Brok. Sie argumentieren vor allem mit der Idee europäischer Solidarität.

Aus denselben Gründen sprachen sich auch die früheren deutschen Außenminister Joschka Fischer (Grüne) und Sigmar Gabriel (SPD) für einen Marshall-Plan aus. "Italien und Spanien werden es Europa und vor allem uns Deutschen hundert Jahre lang nicht vergessen, wenn wir sie (...) jetzt im Stich lassen. Und genau das tun wir gerade", kritisieren die beiden früheren Minister in einem Gastbeitrag für das "Handelsblatt" und den "Tagesspiegel" (Montag). Das Coronavirus habe aus ihrer Sicht das Potenzial, die ohnehin in Europa existierenden Risse so massiv zu vertiefen, "dass die Union daran auseinanderbrechen könnte". Vor allem in Italien war wiederholt Kritik an der mangelhaften Hilfe der EU laut geworden.

Die EU drohe bei dieser größten Bewährungsprobe seit ihrer Entstehung dramatisch zu versagen, meinten Gabriel und Fischer. "Stattdessen erleben wir, dass Mächte wie Russland und China öffentlichkeitswirksam Hilfe liefern, um genau dieses Defizit Europas zu betonen. Dass hier humanitäre und politische Ziele mindestens gleichzeitig verfolgt werden, liegt auf der Hand."

Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez rief die EU-Partner "in einem kritischen Moment" zu "rigoroser Solidarität" auf. Um im Kampf gegen die Corona-Krise nicht als Union zu scheitern, müsse die EU "eine Kriegswirtschaft auf die Beine stellen", forderte der sozialistische Politiker in einem Gastbeitrag für das Nachrichtenportal der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Sánchez sprach ebenfalls von einem neuen Marshall-Plan.

In der Krise sieht Sánchez aber auch "eine Chance für den Wiederaufbau einer weitaus stärkeren EU". Ähnlich äußerte sich von der Leyen auf Twitter. Europa habe bei der Bekämpfung der Epidemie zwar anfangs einen "Fehlstart" hingelegt - das tue heute noch weh. Aber jetzt stehe Europa zusammen. Ärzte und Krankenschwestern im Ruhestand seien in den Dienst zurückgekehrt, Millionen weiterer Freiwilliger unternähmen alles, um zu helfen, so von der Leyen.

"Wir haben gesehen, wie Restaurants Lebensmittel an erschöpftes medizinisches Personal liefern, Designerlabels Krankenhauskleidung anfertigen und Autohersteller zu Produzenten von Beatmungsgeräten werden", lobte von der Leyen. "Diese Akte der Freundlichkeit, des Mutes und des Einfallsreichtums erfüllen mich mit Stolz. Dies ist die Kraft der europäischen Solidarität."/cha/laj/bvi/DP/nas

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