Der 20. April 2020 ist ein Tag für die Geschichtsbücher. An diesem Tag verlor der Spot Preis für Rohöl der Marke West Texas Intermediate massivst und handelte gegen 21:00 MEZ bei unglaublichen -20,31 USD per Fass Rohöl. Dies ist der tiefste Preis, der seit Anfang der 1980er Jahre jemals beobachtet werden konnte. Die wirklich berechtigte Frage in diesem Zusammenhang lautet natürlich, wie es zu diesem unglaublichen Preisverfall kommen konnte. Reflektiert der tiefe Ölpreis die Erwartung einer tiefen Rezession und einer kollabierenden Nachfrage nach Rohöl aus konjunkturellen Gründen?

Die aktuelle Situation auf dem Rohölmarkt ist durch eine unglückliche Verkettung ungünstiger Faktoren gekennzeichnet. Den Beginn markierte ein Zusammentreffen des Corona-Virus und der gescheiterten OPEC+-Verhandlungen. Die Ausgangsbeschränkungen in Asien, gefolgt von Europa und letztlich auch in den USA erscheinen als einzig probates Mittel um die Ansteckungsraten in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig führten diese Maßnahmen zum Ausbruch einer weltweiten Rezession, der Flugverkehr steht in vielen Teilen der Welt völlig still. Gleichzeitig führten die für Anfang März anberaumten OPEC+-Verhandlungen (d.h. OPEC-Staaten plus Russland) zu keinem Ergebnis. Das Resultat war ein Preiskrieg. Die pandemiebedingt rückläufige Entwicklung der Nachfrage nach Rohöl führte in Kombination mit dem erwähnten Preiskrieg zu einem klaren Angebotsüberhang. Daraus resultierte ein Preisrückgang von 60 USD pro Fass auf etwas 20 USD pro Fass innerhalb weniger Wochen. Das ist auch bereits eine herbe Korrektur, war jedoch in Geschwindigkeit und Ausmaß mit den Korrekturen 2008 und 2014 vergleichbar. Letztendlich führte die Korrektur 2020 doch zu einer Einigung innerhalb der OPEC+-Verhandlungen: am 12. April wurde eine Kürzung der Produktion um 10 Millionen Barrel pro Tag beschlossen. Dies entspricht in etwa der täglichen Ölproduktion Russlands und stellt gleichzeitig die umfangreichste Produktionskürzung der Geschichte dar. Damit sollte der Ölpreis stabilisiert werden. Wie konnte es dennoch zum massiven Preisverfall kommen?

An dieser Stelle ist die Rolle der Futures-Märkte für Rohöl zu betrachten. Futures für Rohöl der amerikanischen Sorte West Texas Intermediate wird in New York an der NYMEX (New York Mercantile Exchange) gehandelt. Wesentlich für das Verständnis der Funktionsweise dieser Märkte ist die Art der Abwicklung dieser Kontrakte: der Inhaber einer sogenannten "Long Position" bekommt am Fälligkeits-Tag 1000 Fass Rohöl physisch geliefert. Der Ort der Lieferung ist dabei bereits im Voraus festgelegt: Cushing im US-Bundestaat Oklahoma.

In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Lager in Cushing und Umgebung aufgrund des in den vergangenen Wochen tiefen Ölpreises komplett gefüllt sind und daher praktisch keine freien Kapazitäten zur Verfügung stehen. Potenzielle Käufer, die den tiefen Ölpreis zu Nutzen versuchen, haben daher Schwierigkeiten entsprechenden Lagerraum zu ergattern.

Wer zählt zu den größten Investoren in Long Positionen in Öl-Futures? Die Antwort lautet ETFs und ETCs (Exchange Traded Commodities), die die Entwicklung des Ölpreises abbilden. Diesen ETFs und ETCs ist es laut deren Bestimmungen nicht gestattet physische Bestände in Rohöl zu halten. Sie sind daher gezwungen die Futures-Positionen rechtzeitig vor dem Verfall zu veräußern, um nicht bei der Anlieferung von physischem Öl in die Pflicht genommen werden zu können. Der liquideste Handel in Rohstoff-Futures findet fast ausschließlich in den nächsten drei Laufzeiten statt. Per 20.4.2020 war das der Future mit Laufzeit Mai, Juni und Juli. Wesentlich in diesem Kontext ist der Mai-Kontrakt, zuletzt der sogenannte "Front-Kontrakt" (d.h. jener mit der kürzesten Restlaufzeit), da am 21.4.2020 der letzte Handelstag war. ETFs und ETCs, die laut ihrem Reglement keine physischen Öl-Positionen halten dürfen, müssen daher am 20.4. oder 21.4. verkaufen. Unter normalen Umständen setzt ein Arbitrage-Mechanismus ein, falls Preiskorrekturen übertrieben stark ausfallen. Rohstoffhändler, die physische Öl-Positionen im Öltank halten dürfen, kaufen die Futures zu tiefen und damit attraktiven Preisen auf, nehmen die physische Öl-Lieferung entgegen und verkaufen anschließend die physischen Ölbestände. Dieser Arbitrage-Mechanismus funktioniert derzeit jedoch nicht, da kein Lagerplatz verfügbar ist. ETFs und ETCs, die dringend bis inklusive morgen verkaufen müssen, treffen auf keine Nachfrage. Dadurch kann der massive Absturz des Ölpreises auf ein negatives Niveau erklärt werden.

Meine Einschätzung: Brechen daher goldene Zeiten für Autofahrer an, die beim Tanken an der Tankstelle Geld ausbezahlt erhalten? Leider ist davon nicht auszugehen. Ein Blick auf die sogenannten "Term-Structure" des Futures-Marktes für Rohöl gibt wichtige Hinweise.

WTI Future Mai 2020 -25,00

WTI Future Jun 2020 20,95

WTI Future Jul 2020 26,78

WTI Future Aug 2020 28,94

WTI Future Sep 2020 30,25

Der Futures-Markt für Rohöl sieht aktuell den Preis im Juni bereits wieder bei +20,95 USD und per September bei USD +30,25. Die Kurve der Terminpreise steigt damit relativ steil nach oben ("der Markt handelt Contango") und preist eigentlich sogar eine relativ deutliche wirtschaftliche Erholung in der 2. Jahreshälfte ein. Die unangenehme Neuigkeit für potenzielle Öl-Investoren ist daher, dass nur der von den Kapriolen im Ölpreis profitieren kann, wer auch aktuell über einen leeren Tank in Cushing, Oklahoma, verfügt. Die mangelnde Funktion des Arbitragehandels bietet hier wirklich einzigartige Returns. Alle anderen Strategien machen aus aktueller Sicht keinen Sinn, außer man glaubt an eine starke, V-förmige Erholung der Wirtschaft und damit insgesamt (über 30 USD) steigende Ölpreise.