„Seit 20 Jahren sieht sich Japan mit einer Nullzinsphase konfrontiert. Wie haben japanische Finanzinstitute reagiert? Sind diese Modelle für europäische Finanzinstitute transformierbar?“, fragte Erich Mayer, Präsident vom Finanz-Marketing-Verband Österreich (FMVÖ) gleich zu Beginn des FMVÖ-Financial Forum in der Österreichischen Nationalbibliothek in die hochkarätige Expertenrunde. Moderator Wolfgang Wainig (Die Freibanker) sagte, dass Nullzinsphasen früher immer etwas Temporäres waren, deshalb sei diese lang andauernde Periode etwas besonders Spannendes. Wilhelm Petersmann, Geschäftsführer Fujitsu Schweiz und Österreich und Head of Financial Services Vertical, Central and Eastern Europe, stellte in seiner Begrüßungsrede klar, dass sich auch Europa auf eine längerfristige Phase einstellen müsse: „Was momentan im Bereich der Banken passiert, ist kein kleiner Schluckauf, sondern wir stehen vor einer längeren Phase der Nullzinspolitik“. Die Experten des japanischen Technologiekonzerns waren auf Einladung des FMVÖ in Wien. Zu den Kunden von Fujitsu zählen neben zahlreichen Banken auch die Tokyo Stock Exchange.

LED-Strategie als Erfolgsrezept in Japan

„In Bezug auf Nullzinsen war Japan ein Vorreiter. Mittlerweile können wir die so genannte ‚Japanisierung‘ hinsichtlich der Zinspolitik global beobachten“, sagte Hajime Takata, Vice-Chairman und Executive Economist beim Mizuho Research Institute in Tokyo, zu Beginn seines Vortrags. „Während wir in den 1980er-Jahren eine Periode boomenden Wachstums erlebten, kam 1989 mit dem Höhepunkt der Japan-Blase eine Wende. Seitdem ist Japan alleine in der Stagnation, praktisch isoliert vom Rest der Welt“, so Takata. Die langanhaltende Niedrigzinssituation habe die japanische Wirtschaft grundlegend geändert. „Die Regierung und die Unternehmen sind die klaren Gewinner in dieser Situation, die Geldinstitute und die Haushalte die Verlierer. Die Negativzinsen gestalten sich eigentlich als eine Art Geheimgebühren für die Finanzinstitute“, so der japanische Top-Ökonom. Trotz Niedrigzinsen sei die japanische Wirtschaft in den letzten 20 Jahren stabil geblieben und die japanische Notenbank, die Bank of Japan, sei in den vergangen zwei Jahrzehnten zum Vorreiter in Sachen finanzielle Innovationen geworden. „Unser Survival Game ist die so genannte LED-Strategie. Dabei steht das L für die Beteiligung im ultra-langfristigen Bereich, z. B. im Falle von japanischen Staatsanleihen. Das E steht für die Expansion der kommerziellen Bankgeschäfte in aufstrebenden Märkten Asiens und das D für die Diversifizierung der Finanzgeschäfte, etwa im Bereich der Aktien, Immobilien oder Infrastrukturprojekte“, erklärte Takata. Das Resultat dieser Maßnahmen sei eine hohe Rentabilität des japanischen Unternehmenssektors, bei der die Investitionen in Aktien steigen. „Damit verschiebt sich der Schwerpunkt der Finanzpolitik von einer Geld- und Währungspolitik zu einer Budgetpolitik. Die japanische Modern Monetary Theory sei demnach selektiv und weist eine starke Fiskaldisziplin auf“, sagte Takata und wies abschließend auf die Bedeutung einer internationalen Zusammenarbeit im Bereich Niedrigzinspolitik hin.

Geldflut in Japan ist im Bankensystem gelandet

Martin Schulz, Senior Research Fellow und Senior Economist, Fujitsu Research Institute in Tokyo, der rund 30 Jahre seines Lebens in Tokyo verbrachte, erkläre, dass er bereits 2010 auch für Europa langfristig niedrige Zinsen prognostiziert hatte. Damals wollte allerdings seine Botschaft noch keiner hören. „Wenn wir die Zentralbanken beschimpfen, weil sie die Zinsen niedrig halten, wird uns das nicht weiterhelfen“, erklärte Schulz. Anhand einer Grafik zur Geldmenge M2 demonstrierte Schulz, dass die nach dem  japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe benannten Abenomics zwar zu einer Verdoppelung der Geldmenge geführt hatten, diese sei aber nicht nachfragewirksam geworden, weil das Geld in den Banken stecke. Die wichtigsten Merkmale der von Abe eingeleiteten Wirtschaftsmaßnahmen war die Ankurbelung der Konjunktur durch eine lockere Geldpolitik in Kombination mit höheren Staatsausgaben.

Anhand des Big Mac Index zeigte Schulz auf, dass derzeit sowohl die Preisentwicklung in Österreich als auch in Japan stabil sei. Grund sei die hohe Effizienz in der Produktion. Derzeit setzen sich die Kosten eines Burgers aus 15 Prozent Zutaten, 25 Prozent Arbeit und 60 Prozent Real Estate sowie Service zusammen. Die Lage der Weltwirtschaft sehe derzeit dramatischer aus als sie sei, beruhigte der Experte. In China, Thailand oder den Philippinen gäbe es momentan viele Risiken, aber die Märkte würden trotzdem wachsen. Und man habe gelernt mit der Situation umzugehen. „Sie sind in der glücklichen Lage neben Osteuropa zu wohnen, wo es großartige Chancen gibt. Nutzen Sie diese Chancen und gehen Sie nicht davon aus, dass die alte Welt zurückkommt, sondern machen Sie sich Gedanken um die neue Welt“, appellierte der Experte an die Zuhörer.

Nullzinspolitik verringert den Wertberichtigungsbedarf bei den Banken

Ewald Nowotny, Gouverneur der Österreichischen Nationalbank i.R. und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik räumte ein, dass die Niedrigzinspolitik der EZB zwar auch negative Effekte für die Banken hatte, allerdings sei zugleich der Abschreibungsbedarf der Geldinstitute deutlich zurückgegangen. „Die österreichischen Institute sind sehr ertragreich, weil der Wertberichtigungsbedarf gesunken ist. Die steigende Kreditqualität hatte einen gewaltigen Effekt auf die Gewinnentwicklung der Banken“, betonte der ehemalige OeNB-Chef. Nowotny ortete aufgrund der demographischen Entwicklung zugleich einen weltweiten Ersparnisüberschuss. Zugleich gehe der Kapitalbedarf zurück, weil der technische Fortschritt Kapital spare. Eine Softwarefirma brauche nun einmal weniger Kapitaleinsatz als beispielsweise eine Autofabrik.

Nowotny ist auch der Frage nachgegangen, welche Rolle die Banken im technologischen Fortschritt übernehmen. Die größten Technologieansätze ortet der Experte im Bereich Zahlungsverkehr bei den Fintechs. Eine große politische Fragestellung sei es, dass alle Zahlungsdienste über nichteuropäische Zahlungsdienstleister erfolgen würden. „Wir haben ein gesamteuropäisches Interesse daran, einen europäischen Anbieter zu haben“, betonte Nowotny und die EZB habe sich auch darum bemüht. Allerdings sei die Stimmung nicht sehr optimistisch. Auch Cybergeld sei eine große Herausforderung. Derzeit werden die Bürger von der EZB mit Bargeld versorgt und die Banken mit Giralgeld. Würde sich die EZB im Bereich Cybergeld engagieren, hätten plötzlich die Bürger die Möglichkeit direkt bei der EZB ein Konto zu haben und die Banken zu umgehen.

Größe Umverteilungsaktion von Privat zu Staat

Ralph Müller, Vorstandsvorsitzender und Generaldirektor der Donau Versicherung, räumte in der Podiumsdiskussion ein, dass für seine Branche das Niedrigzinsumfeld nicht vorteilhaft sei, wiewohl die EZB nicht alleine dafür verantwortlich sei. Müller sieht es als Zeichen von Professionalität, dass man damit kalkuliere, dass sich daran sobald nichts ändern werde. Zudem betrachtet der Experte es als Problem, wenn man auf Kosten der nächsten Generation die Wirtschaft gestalte. „Ich habe Kinder und mache mir wirklich Sorgen, dass wir für die nächsten 20 oder 30 Jahre einen ordentlichen Scherbenhaufen hinterlassen könnten. Es ist nicht nur so, dass wir dabei sind, die Umwelt zu ruinieren. Es sieht momentan auch so aus, als würden wir die Spareinlagen unserer Kinder plündern“, sagte der Experte. Er habe noch gelernt, dass man eine Zeit lang investieren müsse, um später einmal zu ernten. Derzeit sei es umgekehrt: „Wir ernten heute schon und unsere Kinder müssen irgendwann die Schulden abtragen oder die Zeche bezahlen“. Die Nullzinssituation sei eine der größten Umverteilungsaktionen von Privat Richtung Staat, denn sie fördere die Ungleichheit in der Gesellschaft. Vermögende Menschen könnten viel eher damit umgehen und in riskantere Anlagen investieren. Junge Menschen hätten es hingegen schwer, Vermögen aufzubauen.

Nowotny relativierte die aktuelle Situation bei den Sparzinsen: „Es ist richtig, dass es keinen Ertrag bei Spareinlagen gibt, aber der große Geldvernichter war immer die Inflation und das haben wir im Moment nicht.“ Die Niedrigzinspolitik diene schließlich dazu, die Inflation anzukurbeln. Das Problem sei derzeit eher die Deflation. Nowotny betonte, dass es auch in der Vergangenheit eine negative Realverzinsung gegeben habe, auch wenn es den Betroffenen nicht immer bewusst war. Es gäbe eine „Nominal-Illusion“. „Mein Vater ist in den 70er Jahren stolz von der Bank zurückgekommen, weil er die Sparzinsen von drei auf fünf Prozent ausverhandelt hatte. Allerdings lag die Inflation damals bei acht oder neun Prozent“, schilderte Nowotny.

Handvenen 100-mal sicherer als Fingerabdruck

Im Anschluss an die Podiumsdiskussion stellte Joseph Reger, Fujitsu Fellow und CTO von Fujitsu Europa, einige bahnbrechende Technologien vor, die den Finanzsektor in den nächsten Jahren und Jahrzehnten grundlegend verändern könnten. „Ich konzentriere mich hier auf vier wichtige Technologien. Erstens die Handvenentechnologie, die etwa 100-mal sicherer ist als der Fingerabdruck. Die Anwendung dieser Technologie könnte so einem europäischen Anbieter die Chance geben, ein Bezahlungssystem aufgrund von kombinierten biometrischen Merkmalen zu entwickeln. Zweitens ist das die Blockchain-Technologie, die im Finanzsektor immer noch nicht richtig akzeptiert wurde“, erläuterte Reger. Zudem betonte der Experte auch die Chancen und Gefahren von Künstlicher Intelligenz: „Das Machine Learning wird im Bereich der Bank Ratings völlig neue Perspektiven bieten. Jedoch wird hier der ethisch-moralische Aspekt immer wichtiger, damit die Werte der Menschheit nicht vernichtet werden“, betonte der Fujitsu Europa-CTO. Auch die Entwicklung von Quantenrechnern könnte in der nächsten Zeit bedeutende Auswirkungen auf die Finanzwelt haben. „Für die Finanzwelt zählt immer mehr das Back-End, weil das Front-End bereits verloren ist“, so Reger abschließend.