Eigentlich kann sich die Bilanz sehen lassen. 61 Prozent der konkreten Versprechen ihres Koalitionsvertrags haben Union und SPD zumindest teilweise abgearbeitet - und dafür haben sie noch nicht einmal die Hälfte ihrer regulären Amtszeit gebraucht. Das haben Forscher in einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung herausgefunden. Blöd nur, dass fast vier von fünf Bundesbürgern meinen, die Regierung habe kaum etwas oder allenfalls die Hälfte ihrer Versprechen eingelöst. Der Ruf der Koalition ist zwei Wochen vor den Wahlen in Brandenburg und Sachsen nicht der beste - nun wollen Union und SPD kräftig gegensteuern.

In Sachsen droht CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer die Abwahl, in Brandenburg seinem SPD-Kollegen Dietmar Woidke. Da kommt Gegenwind vom Bund denkbar ungelegen - etwa durch eine Regierung, die ständig streitet und deren Bestand dauerhaft infrage steht.

Immer näher rückt die Halbzeitbilanz. Von den bisherigen Bewerbern für den künftigen SPD-Vorsitz wollen die meisten die Regierung aufkündigen. Die zahlreichen Gegner des Bündnisses bei den Sozialdemokraten setzen vor allem auf die vereinbarte Revisionsklausel - und darauf, das Bündnis darüber zu kippen.

Doch nun haben die Spitzen von Union und SPD im Kanzleramt beschlossen: Bilanz gezogen werden soll erstmal zusammen - und zwar schon bis Mitte Oktober. Zu dem Zeitpunkt soll der Mitgliederentscheid bei den Sozialdemokraten über die Nachfolge von Andrea Nahles dann schon angelaufen sein. Der Vorstand soll die Regierungsbilanz dann bewerten - als Vorlage für den Parteitag im Dezember.

Wenn es einigermaßen gut läuft und SPD und Union politisch im Herbst noch etwas hinkriegen, könnte die SPD-Führung die Bilanz der eigenen Regierung dann mit neuen Argumenten verteidigen. Der kommissarische Parteichef Thorsten Schäfer-Gümbel macht deutlich: Bewertet werden soll das Regieren dann nicht anhand eines prozentualen Umsetzungsstands. "Wir sind ja nicht im Bereich einer Unternehmensbilanz oder irgendeines statistischen Verfahrens", sagt er. Bewertet werden soll politisch.

Und da bemühten sich die Fraktions- und Parteichefs bei Kanzlerin Angela Merkel am Sonntagabend um tragfähige Grundlagen. Ob bei Mieten und Wohnen, bei der Grundrente, dem Soli-Abbau oder dem Klimaschutz - auf all diesen wichtigen und strittigen Feldern wollen beide Seiten bald etwas hinbekommen.

Doch natürlich ist man auch in den Spitzen von CDU und CSU nicht ohne Sorge über den Zustand der SPD - und die Unwägbarkeiten, die mit dem Findungsprozess des Partners für eine neue Parteispitze zusammenhängen. In der Union hofft man, dass sich Finanzminister Olaf Scholz beim Mitgliederentscheid und auf dem Parteitag Anfang Dezember durchsetzen kann. Der Vizekanzler gilt als Befürworter einer Fortsetzung der Groko bis zu ihrem regulären Ende 2021 - und für die Unionsgranden damit als relativ verlässliche und sichere Bank. Das kann für Scholz freilich auch zum Problem werden: Als Kopf des Neuaufbruchs der SPD kann er kaum auftreten.

Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) lobt schon am frühen Morgen in der ARD, die Koalitionspartner seien sich bei einigen Projekten "sehr, sehr einig". Die Koalition sei inhaltlich "gar nicht so schlecht, wir müssen es nur besser verkaufen".

Selbst die CSU-Spitzen - sonst eher als scharfe Kritiker der Sozis bekannt - loben den Koalitionspartner. CSU-Chef Markus Söder spricht von einem sehr positiven Tag. Die SPD sei in der Koalitionsrunde trotz der schwierigen Kandidatensuche handlungsfähig gewesen. Eigentlich schade, dass die drei Übergangsvorsitzenden nur bis Dezember mit dabei seien. Im Koalitionsausschuss habe es ein "sehr gutes und verlässliches Miteinander" gegeben. "Es war der Wille zur Handlung da, und es war der Wille zum Regieren gestern erkennbar."

Es sei ein gutes Signal, dass Scholz sich zur Vorsitzendenkandidatur entschlossen habe, lobt Söder - auch angesichts der Tatsache, dass nahezu alle anderen Bewerber mehr oder minder deutlich für einen Ausstieg aus der Koalition eintreten. Dennoch werde die CSU in den kommenden Monaten weder Rabatte geben, noch Kompromisse eingehen, die angesichts der Konjunkturlage nicht zeitgemäß seien.

Selbst CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt lobt minutenlang die SPD und eine ausgesprochen gute Stimmung im Koalitionsausschuss. "Man hat auf jeden Fall das Gefühl gehabt, dass sich die SPD-Seite ganz offensichtlich eingespielt hat." Eine Spitze kann sich Dobrindt dann aber doch nicht verkneifen: Er hoffe, dass die SPD auch bei ihren 23 Regionalkonferenzen erkenne, dass ein Rückzug aus der Verantwortung nicht zu besseren Umfragewerten führen würde./bw/bk/DP/nas

AXC0164 2019-08-19/16:39

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