Charmeoffensive, Kommentar zur Europäischen Zentralbank von Mark

Schrörs

Frankfurt (ots) - Man tut Christine Lagarde sicher nicht unrecht, wenn man ihre

ersten Wochen an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) als eine einzige

große Charmeoffensive bezeichnet - sowohl nach außen gegenüber der

Öffentlichkeit, nicht zuletzt der deutschen, als auch nach innen mit Blick auf

den EZB-Rat. Beides ist absolut richtig und wichtig. Aber kein Honeymoon dauert

ewig - und die großen Bewährungsproben für Lagarde zeichnen sich bereits ab.

Klar ist: Gute Stimmung ersetzt auf Dauer keine gute Geldpolitik.

Sicher tut Lagarde gut daran zu versuchen, das schwer gestörte Verhältnis

zwischen der EZB und der deutschen Öffentlichkeit zu verbessern. Ohne den

öffentlichen Rückhalt im größten Euro-Land ist eine Zukunft für den Euro und die

EZB kaum vorstellbar. Genauso ist sie gut beraten, für mehr Einigkeit im Rat zu

sorgen. Bei aller Notwendigkeit für Diskussionen ist ein zerstrittener Rat auf

Dauer kein gutes Signal für einen stabilen Euro.

Schon bald aber kann der geldpolitische Kurs des Jahres 2020 zur ersten ernsten

Bewährungsprobe werden. Derzeit besteht kein Handlungsbedarf, weil Lagardes

Vorgänger Mario Draghi im September noch einmal aus allen Rohren gefeuert hat

und weil der etwas stabilere Wachstums- und Inflationsausblick der EZB Luft zum

Atmen verschafft. Sollte sich der positive Trend aber nicht fortsetzen, dürften

sehr schnell Rufe nach weiteren EZB-Lockerungen kommen. Dann muss Lagarde

beweisen, dass ihre Appelle an andere Politikbereiche und die Warnungen vor

gefährlichen Nebeneffekten der ultralockeren Geldpolitik nicht nur

Lippenbekenntnisse sind. Andererseits stellt sich bei einer Festigung des

positiven Trends die Frage, wie lange die EZB an einer Geldpolitik festhalten

will, die noch lockerer ist als in der Weltfinanzkrise. Lagarde muss dann den

Ausstieg entschlossener angehen als Draghi.

Bewährungsprobe Nummer 2 dürfte die avisierte Strategieüberprüfung werden. So

richtig diese nach 16 Jahren ohne Review ist, so kontrovers sind die zu

treffenden Entscheidungen - etwa beim Inflationsziel von unter, aber nahe 2

Prozent. Die EZB muss sich davor hüten, aus der tagesaktuellen Not einer zu

niedrigen Inflation heraus Entscheidungen zu treffen, die nur eine noch länger

extrem lockere Geldpolitik rechtfertigen sollen. Dass Lagarde den Prüfprozess

auf bis zu einem Jahr ansetzt, ist da ein gutes Zeichen.

Anders sieht es mit ihrem Bestreben aus, andere Themen wie Klimawandel oder

Ungleichheit einzubeziehen. Das ist primär Sache der Politik, nicht der

Geldpolitik. Wenn sich Lagarde da komplett verzettelt, kann es mit der guten

Stimmung schnell wieder vorbei sein.

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