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29.05.2020 | 19:00
Völlig losgelöst / Kommentar zur Aktienrally von Christopher Kalbhenn
Frankfurt (ots) - Durch die Corona-Pandemie erleben die Finanzmärkte ein Jahr
der Extreme. Dazu zählt, ebenso wie die Geschwindigkeit des Kursabsturzes und
die Heftigkeit der Marktschwankungen in der Panikphase des März, die seit
zweieinhalb Monaten anhaltende Erholungsrally. Ihr Ausmaß ist überaus
beeindruckend und überraschend. In der abgelaufenen Woche hat der Dax 4,6%
gewonnen, nachdem er in der Woche davor bereits um 5,8% zugelegt hatte - also in
nur zehn Handelstagen 10,7% bzw. rund 1120 Zähler. Auf Basis seines
Erholungshochs hat der Index im Vergleich zu seinem Crash-Tief von Mitte März in
der Spitze sage und schreibe 43% gewonnen.
Mit dieser Hausse haben sich die Aktienmärkte jedoch mittlerweile völlig von der
Realität losgelöst, die geprägt ist vom schwersten ökonomischen Absturz seit der
Großen Depression sowie derzeit kaum kalkulierbaren Aussichten und Risiken für
den Rest des Jahres und auch für die Zeit danach. Bis zu einem gewissen Grade,
wenn auch nicht in diesem Ausmaß, ist die Erholung vom Schock des ausgehenden
Winters nachvollziehbar. Geld- und Fiskalpolitik greifen in dieser Krise
weltweit in einem Ausmaß stützend ein, das in der Wirtschaftsgeschichte einmalig
ist. Hinzu kommen die zunehmende Aufhebung der Mobilitätsbeschränkungen, mit der
ein allmähliches Wiederhochfahren der Wirtschaft eingeleitet wird, und die hohe
Intensität, mit der weltweit an der Entwicklung von Impfstoffen und Mitteln zur
Behandlung von Covid-19 gearbeitet wird.
Außerdem hat sich der Mangel an hinreichenden Alternativen zu Dividendentiteln
verstärkt, weil der Zins rund um den Globus quasi abgeschafft wird. Jüngstes
Beispiel war am Donnerstag die Zentralbank Polens, die ihren Leitsatz von 0,50%
auf 0,10% reduziert hat. Nicht zuletzt setzen die Märkte darauf, dass auch die
Währungshüter Großbritanniens und der USA ihre Leitzinsen in den Minusbereich
befördern könnten.
Es ist völlig normal, dass die Aktienmärkte nicht die schwarze Realität der
Gegenwart handeln. Schließlich nehmen die Marktteilnehmer die Zukunft vorweg -
oder versuchen das zumindest. Es sind aber erhebliche Zweifel an dem Szenario
angebracht, das an den Aktienmärkten derzeit eingepreist wird. Kurz
zusammengefasst reflektiert das Ausmaß der Hausse die Einschätzung, dass die
Pandemie und die von ihr ausgelöste schwere Wirtschaftskrise innerhalb eines
eher überschaubaren Zeitraums überwunden werden und somit auch relativ schnell
einigermaßen der Zustand von vor der Krise wieder erreicht werden kann. In der
Einschätzung, dass diese Krise überstanden wird, liegen die Aktienmärkte
richtig, bezüglich der Geschwindigkeit der Überwindung jedoch wahrscheinlich
nicht.
Mit anderen Worten: Die Marktteilnehmer begehen einen Timing-Fehler. Die
Pandemie und damit die Wirtschaftskrise werden eben nicht schnell vorübergehen.
Es ist noch nicht absehbar, wann es einen Impfstoff geben und wie schlimm der
wirtschaftliche Schaden ausfallen wird. Längerfristig stellen sich weitere
potenzielle Probleme, deren Folgen kaum kalkulierbar sind. Dazu zählen die
wieder zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China, ein infolge einer
teilweisen Deglobalisierung beeinträchtigter Welthandel oder etwa auch eine
Abschwächung des Shareholder Value.
In einer Hinsicht ist der Zustand der Jahreswende wieder erreicht. Die
Aktienmärkte haben ein Niveau erklommen, auf dem zuversichtliche Szenarien
berücksichtigt sind, negative Überraschungen aber überhaupt nicht. Sie sind
damit stark korrekturanfällig, auch wenn ein erneuter Crash wie in den Monaten
Februar und März unwahrscheinlich sein dürfte. Kritisch sieht etwa die
Bewertungslage aus. Der Dax befindet sich derzeit in etwa auf dem Niveau von
Ende Februar. Seither ist der Konsens für den Dax-Gewinn je Aktie dieses Jahres
jedoch von 918 auf 627 Indexpunkte abgesackt. Im Ergebnis ist das
Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des Index in den zurückliegenden drei Monaten von
13 auf 18,5 hochgeschnellt. Tritt die Befürchtung der Commerzbank ein, dass der
Dax-Gewinn noch auf 550 Indexpunkte fällt, läge das KGV sogar bei 21,1.
Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass der Dax weiter zulegt und Höhen
deutlich über 12.000 Punkten erreicht. Der größte Teil der Rally dürfte jedoch
erst einmal hinter uns liegen. Noch mal 20% würden den Index auf einen Stand von
13.904 Punkte hieven, das KGV auf Basis der vermutlich noch weiter sinkenden
Gewinne bzw. Konsensprognose läge dann bei 22,2. Das wäre dann erst recht zu
hoch für das extrem unsichere und risikoreiche Umfeld, in dem sich der
Aktienmarkt in diesem Jahr bewegt.
(Börsen-Zeitung, 30.05.2020)
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